BLACK BOOK - Paul Verhoeven

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Maulwurf
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BLACK BOOK - Paul Verhoeven

Beitrag von Maulwurf »

Black Book
Zwartboek
Belgien/Deutschland/Großbritannien/Niederlande 2006
Regie: Paul Verhoeven
Carice van Houten, Thom Hoffman, Halina Reijn, Sebastian Koch, Christian Berkel, Waldemar Kobus, Michiel Huisman, Derek de Lint, Peter Blok, Ronald Armbrust, Dolf de Vries, Diana Dobbelman

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Im Frühjahr 1944 wird das Versteck der untergetauchten holländischen Jüdin Rachel Stein durch eine Fliegerbombe zerstört. Nachdem auch noch ihre Familie auf der Flucht bei einem Massaker der SS umgekommen ist, nennt sie sich fortan Ellis de Vries und schließt sich dem Widerstand an. Sie lernt den Arzt Hans Akkermans kennen, der sowas wie die Leitfigur der Partisanen ist. Sie trifft Gerben Kuijpers, dessen Sohn Tim ebenfalls aktiv gegen die Nazis kämpft. Und sie lernt Ludwig Müntze kennen, den Leiter des deutschen Sicherheitsdienstes in Holland – und verliebt sich in ihn. So hat sie zwar ungehinderten Zugang zu allen möglichen Geheimnissen der Besatzer, und kann sogar ein Mikrofon im Hauptquartier des SD verstecken. Aber dadurch wird sie auch mit der Tatsache konfrontiert, dass der Mörder ihrer Familie im nächsten Zimmer sitzt. Und quasi ein Stockwerk unter ihr die Freunde grausam gefoltert werden. Doch der Schock kommt erst noch: Der Überfall auf einen, mit den Nazi kollaborierenden, Fluchthelfer geht furchtbar schief. Könnte es sein, dass einer aus der Widerstandszelle ein Verräter ist?

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Der Mann auf dem Regiestuhl hat auf jeden Fall Mut! Ein Drama mit untergetauchten Juden, hingeschlachteten Rettungssuchenden und gefolterten Partisanen als actionlastiges Kriegsspektakel mit vielen nackten Busen zu drehen, das erfordert auf jeden Fall eine Menge Chuzpe. Zu schnell ist der Vorwurf da, sich der tatsächlichen Geschehnisse nur zu bedienen, um nackte Haut in bedrängter Situation zu zeigen, und die Grenze zwischen Exploitation und Mainstream geschickt zu verwischen. Oder ist das nur eine deutsche Befindlichkeit? Und wenn die Filmbewertungsstelle Wiesbaden den Film als “Besonders wertvoll“ bewertet und ihn als “spannend, tiefgründig, gehaltvoll" sowie als „Intelligentes Unterhaltungskino mit einer sensationellen Hauptdarstellerin“ einstuft (den letzten Punkt unterschriebe ich allerdings jederzeit! Genauso wie für alle anderen Darsteller!!), sitzt dann das Problem nicht vielleicht auf dieser Seite des Fernsehers?

Denn tatsächlich ist mir vor allem die erste Stunde von BLACK BOOK ein zu flippiges Widerstandsabenteuer für große Jungs und Mädels. Die Lockerheit, mit der die jungen Leute da ihre Haut zu Markte tragen, die geht mir doch einigermaßen gegen den Strich. Ich bin beim Ansehen nicht umhin gekommen, Melvilles großartigen ARMEE IM SCHATTEN als Vergleich heranzuziehen, der Lino Ventura als Kämpfer der Resistance zeigt, und da stinkt BLACK BOOK auf den ersten Eindruck schon gewaltig ab. Wo der Schatten des Todes, vor allem eines langsamen und grausamen Todes durch deutsche Folterschergen, in ARMEE DER SCHATTEN ständig zu spüren ist, sogar gänzlich ohne die Darstellung von Brutalitäten, da pfeift sich BLACK BOOK fröhlich eins und zeigt lustig pfeifende, entwurzelte junge Menschen, die in einer Atmosphäre heiterer Entspannung ohne Zögern in den Tod gehen. Die Möglichkeit, das eigene Leben wochenlang zu verlieren ist zwar gegeben, und wird auch in einigen drastischen Bildern gezeigt (wobei man der Fairness halber zugeben muss, dass viel von diesem Gezeigten nur im Kopf des Zuschauers stattfindet), aber die Gefahr, die Drohung, die ständige Angst, solche Dinge werden zumindest in der ersten Hälfte vollständig ausgeblendet.

Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher ob das nun ganz allgemein eine deutsche Sichtweise ist, oder mein persönliches Empfinden. Naziploitation ist halt nun mal nichts, was ich von einem Paul Verhoeven erwarte. Vor allem dann nicht, wenn das ganze mit einigem Ernst und mit Anspruch rüberkommt. Aber zeigt mir Carice van Houten für Ernst und Anspruch nicht vielleicht ein paar mal zu oft ihre schönen Brüste? Ist die Full Frontal Nudity des überragend aufspielenden Waldemar Kobus schon reichlich exploitativ (wie die ganze Szene auf der Toilette schon ziemlich sleazig rüberkommt)? Ist die Entlarvung von Ellis in Müntzes Bett gar zu sexploitativ? Paul Verhoeven macht seinem Ruf als Skandalfilmer in diesem Augenblick alle Ehre, und das Anstandsempfinden des, durch jahrelange Schuldbekenntnisse geübten, Deutschen schlägt Purzelbäume: Titten und Judenverfolgung, das geht doch nicht gleichzeitig!?

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Geht es eben doch, und zwar sogar abseits von Filmen wie KZ 09 oder SS HELL CAMP. Verhoeven schafft äußerst gekonnt den Spagat zwischen Anspruch, Spannung und Unterhaltung, indem er ganz einfach auf alle Konventionen pfeift und reines Kino inszeniert. Das bedeutet das Erzeugen von Emotionen beim Zuschauer, das bedeutet die unter Umständen auch mal drastische Darstellung von Sex und Gewalt (denn beides kommt in der Wirklichkeit gehäuft vor, auch wenn Hollywood-Filme diesen Umstand des Öfteren gerne ausblenden), und das bedeutet die Darstellung von Tod. Alle diese Dinge stecken in BLACK BOOK, was in Summe ein ziemlich packendes und spannendes Drama ergibt, das sich vor den großen und epischen Machwerken wie dem vollkommen überschätzten SCHINDLERS LISTE in keinster Weise verstecken braucht. Denn wo ein Steven Spielberg tief in den Eimer mit dem Pathos greift und zur Betroffenheit aufruft, da inszeniert ein Paul Verhoeven mit lockerer Hand eine Realität, die man so auch in der Wirklichkeit wiederfinden kann.

Ist das wirklich so? Ein paar Dinge haben mich schon sehr gestört: Dass der Leiter des SD in Holland seine neue Geliebte nicht routinemäßig überprüfen lässt? Vor allem, wenn er schon weiß, dass sie eine Jüdin ist? Und seine Unbedarftheit gegenüber seinen Kollegen lässt darauf schließen, dass er seine Position nicht mit Kompetenz, sondern durch Beziehungen bekommen hat, sonst hätte er die aufgestellten Fallen schon viel früher ahnen müssen. Dass der Untergrundzelle so gar nicht auffällt, dass einer von ihnen ein Verräter sein muss? Dass Ellis ihren Ekel vor Franken so dermaßen gut zurückstellen kann, dass sie sogar mit ihm singen und tanzen kann? Dass Ronnie scheinbar völlig unbeschadet durch alle Wirrnisse der Zeit durchkommt? Na gut, da hat sie halt Glück gehabt. Diejenigen, die nicht so viel Glück hatten werden auch gezeigt, mit dem Schild Moffenhoer (Deutschenhure) um den Hals und geschorenen Haaren (das Teeren erspart uns Verhoeven dankenswerterweise), und das Los der Kollaborateure wird uns genauso brutal entgegengeschleudert wie das Schicksal der Partisanen.
Aber da sind wir eben schon wieder bei der zweiten Hälfte des Films, und die ist eben erheblich düsterer und drängender als die erste Hälfte, die, ich erwähnte es, diesen Abenteuertouch hat. Dieses “Zwei Himmelhunde auf dem Weg in den Widerstand“- das ist nichts, mit dem ich etwas anfangen kann. Ich weiß aber sehr wohl, dass dies ein rein persönlicher Eindruck ist, meine Familie war auch von dieser ersten Hälfte sehr beeindruckt. Die zweite Hälfte hingegen, wenn die Ereignisse sich zuspitzen, Holland irgendwann befreit wird (und Ellis nur trocken kommentiert, dass sie nie gedacht hätte, das sie Angst haben müsse vor der Befreiung), und die wahre Hölle erst dann ausbricht, wenn keiner mehr damit gerechnet hat, nämlich mit dem Einmarsch der Befreier, diese zweite Hälfte ist düsteres und druckvolles Spannungskino par Excellence, das auch Anspruch und Ernsthaftigkeit an den Tag legt, ohne auch nur an einer einzigen Stelle in Pathos oder Melancholie abzudriften. Der Tod des Verräters könnte noch am ehesten mit dieser Melancholie beschrieben werden, ist aber dafür viel zu abgründig, und in seiner Konsequenz auch zu grausam, um nur und ausschließlich melancholisch daherzukommen.

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Und hier zeigt sich auch die Stärke dieses Films: Die differenzierte Darstellung einzelner Charaktere wie Müntze oder Kuijpers entfernt jeden Gedanken an eine eindimensional-geschönte Darstellung historischer Ereignisse, und da dies ein Film ist, funktionieren gerade Antagonisten wie Franken oder der Verräter eben durch diese Eindimensionalität. Müntze und Kuijpers sind gut und böse zugleich, genauso wie die Widerständler in ihrem Wunsch, Holland von den Nazis zu befreien, gar nicht merken, wie ähnlich sie ihren Feindbildern werden. Die Diskussion innerhalb der Gruppe, für welche Personen es denn wichtiger sei eine Aktion durchzuführen, für die gefangenen Mitglieder der Zelle oder für flüchtende Juden die in eine Falle laufen und umgebracht werden, diese Diskussion ist hochdramatisch und legt den Finger in eine schmerzende Wunde der Nachkriegszeit, die in vielen Ländern bis heute nicht geschlossen sein dürfte. Wenn die guten, braven und frisch befreiten Holländer es den Kollaborateuren mal so richtig zeigen können (eine zutiefst erschütternde und verstörende Szene) werden sie von einem britischen Soldaten mit den Nazis auf eine Stufe gestellt, und tatsächlich ist das Martyrium Ellis‘ in diesem Augenblick sehr ähnlich der Folter eines der Widerstandskämpfer zu Beginn. Auf jeden Fall eine Szene von der ich mir vorstellen kann, dass sie im Mutterland des Regisseurs für Diskussionen gesorgt hat.

Und wieder die Stärke des Films: Solche Gedankengänge anzustoßen, das Leid der Menschen auf beiden Seiten des Zauns zu zeigen, und das als packenden Unterhaltungsfilm, garniert mit Blut und Sex, das ist wahre Kunst. Das einzige was man Verhoeven an dieser Stelle wirklich vorwerfen muss ist, dass er die Haupthandlung als Rückblende anlegt, und somit das Überleben von Ellis immer gewiss ist. Ohne diese Rückblende hätten einige Szenen ein paar kräftige Umdrehungen an der Spannungsschraube mehr gehabt. Dafür versöhnt das Ende mit einem gemeinen und zugleich philosophischen Ausblick auf den zukünftigen Krieg: Feinde werden immer da sei, und der nächste Krieg lauert immer gleich um die Ecke. Was geht es uns in dieser langen aktuellen Friedensphase in Mitteleuropa doch gut, dass wir die Möglichkeit haben, uns ausgiebig mit den Fehlern der Vergangenheit zu beschäftigen …

7/10

Das historische Vorbild der Ellis de Vries: Esmée van Eeghen

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