● LE CHAIR DE L'ORCHIDÉE / UN'OCHIDEA ROSSO SANGUE / DAS FLEISCH DER ORCHIDEE (F|I|D|1974)
mit Charlotte Rampling, Bruno Cremer, Edwige Feuillère, Alida Valli, Hans Christian Blech, François Simon, Hugues Quester,
Rémy Germain, Marie-Louise Ebeli, Pierre Asso, Marcel Imhoff, Ève Francis, Günter Meisner, Eddy Roos und Simone Signoret
eine Vincent Malle Produktion | Paris-Cannes | Les Films Méreic | Les Films de l'Astrophore | Office de Radiodiffusion Télévision Française |
Oceania Produzioni Internationali Cinematografiche | T.I.T. Filmproduktion | im Verleih der Cinerama Filmgesellschaft
nach dem Roman von James Hadley Chase
ein Film von Patrice Chéreau
»Ein bisschen Schizophrenie hat noch niemanden gehindert, eine Bank zu leiten!«
Madame Bastier-Wegener (Edwige Feuillère) veranlasst die Einweisung ihrer Nichte Claire (Charlotte Rampling) in eine Irrenanstalt und hofft, dass sie dort für immer verschwindet, um sich ihr Millionenerbe anzueignen. Claire gilt bei allen Beteiligten als verrückt und dieser Eindruck wird von ihr selbst untermauert, als es zu einem blutigen Zwischenfall kommt, bei dem sie dem Gärtner des Hauses die Augen aussticht. Seitdem befindet sich die junge Frau auf der Flucht, lernt dabei aber den Pferdezüchter Louis Delage (Bruno Cremer) kennen, in den sie sich verliebt. Als einer von Louis' Bekannten ermordet aufgefunden wird und er die Täter erkennt, gerät er als Augenzeuge in Lebensgefahr. Claire hingegen, muss vor der Entourage ihrer gierigen Tante Angst haben, sodass die beiden nicht zur Ruhe kommen...
Bei Filmen mit mehreren Produktionspartnern lässt sich nicht selten ein interessantes Wechselspiel unterschiedlicher Auffassungen und Durchsetzungskraft beobachten, bis sich am Ende herausstellt, ob es zu einem gelungenen Konglomerat gekommen ist, oder sich eine länderspezifische Handschrift durchsetzen kann. Coproduzierte Filme der Münchner T.I.T.-Film bieten für deutsche Verhältnisse stets ein ungewöhnliches Progressiv-Angebot an, das es hierzulande gerne häufiger hätte geben dürfen. In der Regel profitierte die Produktionsfirma vom internationalen Strang, was im Endeffekt ein bisschen mehr bedeutet, als nur interessante bis bekannte deutsche Schauspieler zu platzieren. Ein italienischer Partner deutet häufig auf eine mehr auf Nervenkitzel ausgelegte Art der Bearbeitung hin, wobei sich unter Regisseur Patrice Chéreau eine erdrückende französische Tristesse durchsetzt, deren Vorboten Regen, Gewitter, Nebelschwaden und letztlich Tod sein werden. Für einen Debütfilm eines Regisseurs ist mit "Das Fleisch der Orchidee" ein überaus verlockender Titel, als auch bemerkenswertes Stück filmische Überlänge entstanden, welche streckenweise vielleicht noch ein bisschen zu sehr mit dem Austarieren der verschiedenen Kräfte, Störungen und geheimnisvollen Fragmente beschäftigt ist, ohne hin und wieder zu überladen, in die Länge gezogen oder schwerfällig zu wirken, denn im Grunde genommen handelt es sich um einen Film, von dem man sich bei fortlaufender Zeit wünscht, dass er einfach nicht aufhören soll, da das Angebot überaus faszinierend wirkt. Klassifiziert als Kriminalfilm, bekommt man eine zu triviale und wenig treffende Einschätzung serviert, denn hier bewegen sich Welten und aggressive Kräfte zwischen Wirklichkeit und Illusion hin und her, sodass man am Ende oft selbst zweifelt, ob man richtig gesehen oder gehört hat. Wie man so schön sagt, macht es hier die Inszenierung mit deren zahlreichen destruktiven Einfällen, und nicht etwa hauptsächlich die Geschichte, die mit ihren herkömmlichen Elementen kokettiert. Bevor man hier begreifen kann, werden etliche Personen zur oder durch die Hölle geschickt.
Für dieses Ticket zeigt sich die rätselhafte Claire verantwortlich, eine nicht zu dechiffrierende Mischung aus Protagonistin und Antagonistin, Verführung und Gefahr, deren künstlich gestricktes Schicksal als guter Aufhänger für das Gesamtgeschehen dient. Untergebracht in einem Sanatorium für höhere Töchter und lebende Tote, zeigt ihre erste Szene bereits, was mit ihr offenbar schon häufiger geschehen ist, denn der Gärtner des Anwesens versucht die außergewöhnlich schöne Frau zu vergewaltigen. Doch sie lässt sich weder vom Bock noch vom Gärtner missbrauchen, bis man einen entsetzlichen Schrei hört, welcher der Startschuss für ihre Flucht aus diesem schrecklichen Haus darstellt. Claire hat ihrem Peiniger die Augen ausgestochen, unterm Strich eine drakonische und ebenso symbolische Bestrafung. Dem Publikum werden verschiedene Personen wie milde Gaben vor die Füße geworfen, die sich jedoch nach kürzester Zeit als ungenießbar erweisen, sodass es gar nicht so einfach wird, sich seine persönlichen Anker in der Geschichte zu suchen. Claire macht weiterhin Jagd auf kalte Augen, richtet ihre Peiniger förmlich hin, doch sie leben weiter. Sie beantwortet Fragen, die nie gestellt wurden, präsentiert sich als unschuldiges Opfer eines doppelten Spiels, könnte jedoch genauso gut die Verrückte sein, für die sie gehalten wird. Da dieses Brandzeichen von ihrer eigenen Tante angefertigt wurde, die das immense Vermögen ihres Bruders lieber in ihrer eigenen Tasche sehen möchte, will sie Claire mit dem Stempel der Schizophrenen kaltstellen, was auch weitgehend gelingt. So kommt es wie von selbst dazu, dass man sich gemeinsam mit einer kühl-leidenschaftlichen Charlotte Rampling auf die Suche nach der Wahrheit begibt, die weit in der Vergangenheit vergraben wurde, genau wie die vielen Leichen, die dazu gehören. Synchronisiert von der großartigen Karin Kernke, entsteht aufgrund ihrer unverwechselbaren Stimme eine Konversation im Telegrammstil, sowie eine unwirklich-statische Wärme, umgeben von merklicher Eiseskälte. Die Regie spielt mit diesen Gegensätzlichkeiten, um das Publikum zu irritieren und stets auf einer falschen Fährte zu halten.
Die Witterung und Ambientes wirken deprimierend und sorgen für eine empfundene Kälte und Unbehagen. Die Hoffnung, endlich einmal eine grelle oder intensive Farbe wahrzunehmen, erfüllt sich in betonter Art und Weise nicht. Alle Farben, alle Hoffnungen und alle Emotionen scheinen verblasst zu sein. "Das Fleisch der Orchidee" verfügt über eine beeindruckende Architektur und viel Verworfenheit, sodass sich die beteiligten Charaktere wahlweise gleich selbst vorstellen. Meistens ist ihr Handeln schwer zu verstehen, die Konstellationen untereinander unklar und selbst die Zuneigungen und Connections erscheinen zweifelhaft zu sein, doch auch dieses schlimm in sich verhedderte Wollknäuel wird sich irgendwie entwirren, da die Regie aufmerksam bis zum bitteren Ende bleibt. Der Drive der ersten Hälfte verliert sich in der zweiten ein wenig, aber hier gibt es auch mehrere Hintergrundinformationen zu erfahren, die zum finalen Verständnis beitragen. Großartige Interpreten veredeln die Geschichte mit ihren individuellen Möglichkeiten und kreieren einen Seiltanz fernab der Realität. Sind solche Menschen auch außerhalb einschlägiger Dramaturgien zu finden oder existieren sie nur in besonders ideenreichen Fantasien? Der Film behält sich vor, dass nichts auszuschließen ist und dass man sich mit Vertrauen aber auch Verurteilungen zurückhalten sollte, da die Gefahr besteht, sich schnell auf Irrwegen wiederfinden zu können. Vor allem Charlotte Ramplings temperamentvolle Szenen verleiten dazu, sich einzubilden, dass sie greifbar wäre. Sobald man jedoch die Hand nach ihr ausstreckt, kommt es zu einer unangenehmen Art der Unberechenbarkeit und abweisenden Statik. Ihr Partner Bruno Cremer scheint unter ihrem persönlichen Welpenschutz zu stehen, da sie ihm seine Augen lässt, doch es trachten ihm ganz andere Zeitgenossen nach dem Leben, eben weil er sie sehen konnte. Es kommt zu Begegnungen der völlig grusligen Sorte, vor allem mit einem fantastisch aufspielenden Duo, bestehend aus Hans Christian Blech und François Simon, welches dem personifizierten Sensenmann den Rang abzulaufen versucht.
Nicht minder einschüchternd wirkt Claires Tante alias Edwige Feuillère, die eine anti-emotionale Obszönität an den Tag legt, die verstört. Ihr Sohn Arnaud scheint ebenfalls vollkommen gestört zu sein, und wenn man ihre Entourage hinzuaddiert, weiß man, dass man Sicherheitsabstand halten sollte. Am Ende handelt es sich um großartige Interpretationen in einer unübersichtlichen Gemengelage, die gefährlich wirkt. Abgerundet durch das späte Auftauchen großer Stars wie Simone Signoret und Alida Valli, kommt es zu formvollendeten Momenten, doch die gespielten Charaktere riechen allzu sehr nach Fäulnis und Verworfenheit. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, die Antwort kennt nur der Regen und die Personen reduzieren sich auf bloße Erfindungen des Autors James Hadley Chase und Regisseurs Patrice Chéreau - oder doch nicht? "Das Fleisch der Orchidee" ist als anspruchsvoller, fordernder und unbequemer Beitrag im Lauf der Jahre bestimmt nicht vollkommen in Vergessenheit geraten, den dafür ist das Gezeigte zu erinnerungswürdig, doch der Film ist gewiss aus dem Fokus würdiger Präsentationen gerückt, da es im Bereich der Visualisierung oftmals strapaziös wird. Auch die von Gier, Hass und Unwissenheit getriebenen Personen erscheinen beinahe allesamt nicht salonfähig zu sein, sodass es für den Zuschauer spannend wird, die gebotenen Rochaden zu beobachten, die nicht selten einer unangenehm berührenden Scharade gleichen. Die Regie inszeniert in Zuständen des puren Luxus, da sie nicht auf die Sentiments des Publikums Rücksicht nimmt, wohl aber die Ressentiments ihrer Charaktere auf einem finalen Silbertablett serviert. Ein cleverer Paukenschlag veredelt diese bemerkenswerte Veranstaltung, die sich so wenig an die Gesetze des Unterhaltungsfilms zu halten scheint, und beeindruckt mit kritischen, progressiven aber auch destruktiven Untertönen, verliert sich dabei überraschenderweise jedoch nie in Resignation. Um hier annehmen zu können - oder wahlweise eben nicht - sollte man sich dieses bis zur Unkenntlichkeit entstellte Juwel selbst anschauen, wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Ein beeindruckendes Filmerlebnis.