MATHIEU CARRIÈRE

Leinwandsternchen und verkannte Stars im Blickpunkt
Antworten
Benutzeravatar
Prisma
Beiträge: 3866
Registriert: Sa., 31.10.2020 18:11

MATHIEU CARRIÈRE

Beitrag von Prisma »




MATHIEU CARRIÈRE

[*02.August 1950]

+MatthieuCarrière.jpg
+MatthieuCarrière1.jpg
+MatthieuCarrière2.jpg
+MatthieuCarrière3.jpg



Das Lexikon der deutschen Filmstars hat geschrieben:
Arztsohn hugenottischer Abstammung; wächst in Lübeck auf und besucht das "Katharineum", dieselbe Schule wie Thomas Mann. Wird folgerichtig für die Rolle des jugendlichen Titelhelden Tonio Kröger (1964) entdeckt. Zwei Jahre später spielt er in Schlöndorffs Musil-Verfilmung Der junge Törless (1966) einen introvertierten Zögling, der die Qualen eines Mitschülers beobachtet, ehe er eingreift. Der Erfolg des Films eröffent ihm eine internationale Karriere, Carrière spielt Andrzej Wajda (Gates to Paradise, 1967), Harry Kümel (Malpertuis, 1972) und besonders mit französischen Regisseuren wie Marguerite Duras, Roger Vadim, Jacques Ruffio oder Alain Corneau, ist Partner von Romy Schneider, Orson Welles und Brigitte Bardot. Der Wunderknabe entfaltet ein vielseitiges Talent: Er studiert in Paris Philosophie bei Gilles Deleuze, verfasst Drehbücher, tritt im Pariser Nachtclub "Alkazar" mit Hamlet- und Goebbels-Parodien auf und schreibt ein Essay "für eine Literatur des Krieges Kleist", das 1981 erscheint. Neben dem französischen bleibt aber auch der deutsche Film für Carrière wichtig, in dem er weiter unter Schlöndorrf, Vesely und anderen wichtigen Regisseuren arbeitet. In Zugzwang (1989) führt er erstmals selbst Regie. War mit der amerikanischen Malerin Jennifer Bartlett verheiratet, inzwischen geschieden. Typ: Ein Star von feinnerviger Eleganz, der besonders morbiden Charakteren Profil verleiht. Abwesend, gelangweilt, aber nicht verträumt, scheint er wie geschaffen für die Kunstwelt einer Marguerite Duras oder eines Robert van Ackeren. Depressive Künstler, feige Schönlinge, Aristokraten oder intellektuelle Aussteiger fallen in sein Fach.


Der Schauspieler Mathieu Carrière gehört sicherlich zu einer der interessantesten Persönlichkeiten des lang- bis kurzlebigen Filmbusiness, bleibt dabei nicht zuletzt wegen seiner polarisierenden, um nicht zu sagen, markanten Art des Interpretierens in lebhafter Erinnerung. Dies bezieht sich nicht nur auf sein breites Spektrum der dargebotenen Charaktere, sondern auch auf die immer wieder wirksam in Erscheinung tretende Person der Öffentlichkeit, die es nie gescheut hat, mit unbequemen Themen anzuecken. Zwar wirkt Mathieu Carrière in der cineastischen Betrachtung oft überaus festgelegt auf Personen zwischen böse und noch böser, die außerdem den Eindruck vermitteln, dass sich ein gewisser Sicherheitsabstand aufgrund seiner Unberechenbarkeit anbietet, aber man sieht auch völlig unkonventionelle Herangehensweisen an sein Handwerk, das mit breitem Repertoire veredelt wird. Erwähnt man Rollen aus dem Reich der moralisch verworfenen Zeitgenossen, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es dem Interpreten stets möglich ist, sie mit Charme, Nonchalance und Kultiviertheit auszustatten, was Monotonie so gut wie ausschließen kann. Dem Empfinden nach hat man es überwiegend oder häufig mit einer beinahe aristokratisch bis lasiert wirkenden Erscheinung zu tun, die in Windeseile und natürlich im Zweifelsfall blitzschnell auf Angriff umgestellt werden kann. Diese Attacken auf seine nicht selten weiblichen Kollegen können schmerzhafte Erfahrungen im Rahmen menschlicher Verworfenheit, Kontrolle oder völliger Gleichgültigkeit mit sich bringen. Mathieu Carrière gehört zu der Riege der wohl verdientesten Interpreten des deutschen und internationalen Films, welcher bei Gelegenheit kaum Wert darauf legt, mit allen Mitteln gefallen zu müssen, was meistens passgenau zu Carrières neurotischen, skrupellosen, durchtriebenen oder tiefsinnig-melancholischen Charakteren passen möchte. Filme mit ihm in großen oder kleinen Parts dürfen daher als etwas Besonderes eingestuft werden, da man im Spektrum pointierter Darbietungen und Dialoge alles geboten bekommt, was man vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte.

Mathieu Carrières Erscheinungsbild weckt eindeutige Reaktionen beim Zuschauer, welche im Grunde genommen eine breit gefächerte Klaviatur darstellen. Manche Personen wirken gespenstisch oder unterschwellig brutal, emotional völlig unbeteiligt, in ihren Sozialkompetenzen weitgehend abgestumpft, aber auch geheimnisvoll und schließlich anziehend. Nicht selten erfordern solche Parts einen stillen oder lauten Beobachter, der die Kunst des Taktierens und Kaltstellens seiner Widersacher in Perfektion beherrscht. Im Gegenzug können die gespielten Personen aber auch etwas zurückgeben, und sei es nur eine fundierte Zeugenaussage in einem Krimi. Carrières Einsätze in gut frequentierten Krimis oder überhaupt Serien-Formaten brachten den Interpreten einem breiten Publikum näher, beziehungsweise ferner, welches die oft unbequem bis schwer zuzuordnenden Rollen auf der hohen Qualitätsebene sicherlich überwiegend dankend annahm. Hin und wieder entstand aufgrund einer völlig progressiven Herangehensweise der Eindruck von etwas Einzigartigem oder mindestens einmal Denkwürdigem, doch Mathieu Carrières große Interpretationen sind vornehmlich im Spielfilmbereich zu finden, wahlweise in Großproduktionen auf internationaler Ebene. Neben namhaften Partnern und Partnerinnen brauchte sich der Mime keineswegs zu verstecken, brachte er es doch immer wieder fertig, völlig neue, beziehungsweise unterschiedliche Entwürfe zu Rollen-Schablonen zu liefern. Eigenartigerweise verhält es sich dem Empfinden nach so, dass er trotz besonderer Zeichnungen ebenfalls in einem eigens vom Film entworfenen Laufrad wiederzufinden war, da er schnell auf gewisse Typen und Charaktere abonniert wurde. Bedeutende Akzente ergeben sich aus seiner Art zu sprechen, seiner Angewohnheit, andere zu fixieren und zu manipulieren, und einer Körperlichkeit, bei der man manchmal nicht zwischen Lässigkeit oder Statik unterscheiden kann. Mathieu Carrière ist glücklicherweise bis heute im Filmgeschäft aktiv, auch wenn es im Gegensatz zur Boulevardpresse ungleich ruhiger um ihn geworden ist. Dennoch bleiben seine Auftritte in Film, Fernsehen und Talk stets ein Happening.

► Text zeigen

Benutzeravatar
Prisma
Beiträge: 3866
Registriert: Sa., 31.10.2020 18:11

Re: MATHIEU CARRIÈRE

Beitrag von Prisma »



CarriereDA1.JPG
CarriereDA2.JPG
CarriereDA3.JPG


● MATHIEU CARRIÈRE als JOHN MALVEN in
DER ALTE - DER TOTE IM WAGEN (D|1983)



»Hattest du das Bedürfnis, mich deiner künftigen Verwandtschaft vorzustellen, oder wollen die Herrschaften das alte Karussellpferd mal in einer Extra-Vorstellung sehen?« Es fallen mehrere, derartig giftiger Kommentare, als John Malven die Wohnung seiner Mutter betritt; ehemalig Schauspielerin, aktuell Alkoholikerin. Im Gesicht von Mathieu Carrière lässt sich en detail ablesen, dass er sinnlose Endlos-Diskussionen mit seiner Mutter gewöhnt ist. Das Zusammensein hat mit der Zeit ganz offensichtlich eine Umkehrreaktion erfahren, denn mittlerweile ist es John, der die meistens angeheiterte Dame maßregelt, zur Disziplin aufruft und in patzigem Tonfall einen guten Ratschlag nach dem anderen liefert, wie es normalerweise eine Mutter mit dem Kind tut. Johns Anspannung resultiert aus der Tatsache, dass er sich gerade in den besseren Kreisen etablieren will und diesbezüglich eine gute Partie gemacht hat. Besorgt und wütend schaut er auf seine nicht gerade salonfähige Begleitung, die geradezu vor Angriffslust strotzt, schließlich ist sie in einem Alter, in dem sie kein Blatt mehr vor den Mund nehmen muss - schon gar kein Feigenblatt. Es liegt ein Eklat mit Ansage in der Luft. Schnell wird also die Frage formuliert, welche Rolle sie denn heute auf dem Empfang spielen wolle. Mathieu Carrière zeichnet erneut einen Charakter, der viele Möglichkeiten im Verborgenen offen lässt. Seine überaus kultiviert wirkende Ausstrahlung schließt innere Abgründe nicht aus, wie üblich lässt der von etwaigen Geheimnissen umwitterte Interpret es nicht zu, seine Motive zu durchschauen. Handelt es sich um einen rücksichtslosen Emporkömmling, der zum Hardliner avancieren will, oder ist John in all den Jahren des Kampfes gegen und um seine Mutter einfach nur müde und unempfindlich geworden, hat daher resigniert? Eines ist jedenfalls klar: er kann ihr gegenüber nicht das formulieren, was Frau Malven längst getan hat, nämlich dass sie keinerlei Interesse an einem aufgesetzten Abend mit aufgeblasenen Snobs hat. Ein Schleudersitz für den jungen Mann, dem genau anzusehen ist, dass er sich bei freier Wahl lieber eine völlig andere Kinderstube ausgesucht hätte.

Für John beginnt nun ein Spießrutenlauf, denn er möchte die eigenwillige Dame unbedingt unter Kontrolle halten, allerdings kann er aufgrund seiner Verpflichtungen nicht überall sein. Da alle Nase lang ein Kellner an seiner Mutter vorbei läuft, ist der Alkohol immer nur einen Griff weit entfernt und kann in Fontänen sprudeln. Gelangweilt aber höflich macht sich Frau Malven schließlich aus dem Staub und es kommt dennoch zum befürchteten Eklat. Angeblich hat sie eine Leiche in einem Wagen gesehen. John möchte im Boden versinken, da der Tote plötzlich verschwunden ist, und Formulierungen wie Wahnvorstellungen werden hinter vorgehaltener Hand laut. Die 69. Folge der "Alte"-Serie hat ein überaus starkes Gespann zur Verfügung, das von Mathieu Carrière und Inge Birkmann orchestriert wird. Das permanente Tauziehen der beiden macht John sichtlich mehr zu schaffen, was Carrière innerhalb des Spektrums seiner Gestik, Mimik und kompletten Körpersprache sehr greifbar erscheinen lässt und es sehr gut auf den Punkt zu bringen weiß. Eigentlich liegen bei ihm die Nerven blank, doch er hat gelernt, sich stets im Schutzgriff zu haben. Dennoch sieht man beim genauen Hinsehen, dass er zu einer Art wandelndem Vorwurf gegenüber seiner Mutter geworden ist. Er begreift es nicht, dass sie ihm derartige Steine in den Weg legt, dass sie es ist, die seine neu erschlossenen Kreise abgrundtief verachtet und sich nicht einmal ihm zu Liebe anpassen und der Situation beugen kann. Mathieu Carrières Gesicht bleibt dabei wie so oft eine Art Maske, die in unterschiedlichsten Situationen oft gleichbleibend wirkt. Man vermutet zwar Verachtung, Resignation und möglicherweise schon Hass, doch der gerne gesehene Darsteller lässt sich wie immer nicht genau in die Karten blicken. Es muss schon viel passieren, bis er die Nerven verliert, was sich jedoch eher im Rahmen einer kurzen, aber intensiven Initialzündung abspielt, um unmittelbar im gleichen Moment wieder zu seiner gewohnten Ausstrahlung zurückzukehren, die Gleichgültigkeit, leichte Überheblichkeit und eine eigenartige Ruhe demonstriert. Eine Paraderolle für den gerne gesehenen Interpreten, der pointiert auf einen Abgrund zusteuert.

Antworten