DER RABE - Henri-Georges Clouzot

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Percy Lister
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DER RABE - Henri-Georges Clouzot

Beitrag von Percy Lister »

"Der Rabe" (Le Corbeau) (Frankreich 1942)
mit Pierre Fresnay, Ginette Leclerc, Micheline Francey, Héléna Manson, Jeanne Fusier-Gir Sylvie, Liliane Maigné, Pierre Larquey, Bernard Lancret, Roger Blin, Louis Seigner u.a. | Drehbuch: Henri-Georges Clouzot und Louis Chavance | Regie: Henri-Georges Clouzot

Dr. Germain praktiziert seit kurzer Zeit in der französischen Kleinstadt Saint Robin. Plötzlich kursieren anonyme Briefe, in denen er beschuldigt wird, ein Verhältnis mit der Frau eines befreundeten Arztes zu haben. Auch die anderen Bewohner der Stadt erhalten Briefe, die irgendein geheimes Laster des Empfängers ans Licht bringen. In der aufgeheizten Stimmung verdächtigt jeder den anderen, aber vor allem wird Dr. Germain als Ursache des Übels gesehen. Als Morphium-Ampullen aus der Krankenhausapotheke verschwinden und ein Mann Selbstmord verübt, schaltet sich der Arzt selbst in die Ermittlungen ein und stellt dem Briefeschreiber eine Falle....

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Pierre Fresnay spielt den Gehirnchirurgen Dr. Rémy Germain, der seit drei Jahren als Frauenarzt in der französischen Provinz arbeitet und diese wenig prestigeträchtige Stellung zweifellos angenommen hat, um seiner Vergangenheit zu entfliehen. Die Abgeschiedenheit des ländlichen Raums, wo keine Verfehlung lange unentdeckt bleibt, bereitet den Boden für den Auftritt des "Raben", der die Bevölkerung mit spitzer Feder verbal attackiert, sinnbildlich mit seinem scharfkantigen Schnabel nach den Menschen hackt und in seinen Briefen pikante Geheimnisse ausplaudert. Das Sprichwort "Kein Rauch ohne Feuer" greift auch hier und wiegelt die Menschen gegeneinander auf, wobei besonders jene in Verdacht geraten, die man schon immer für seltsam hielt. Der männliche Hauptdarsteller Pierre Fresnay, der im Jahr 1934 in Alfred Hitchcocks "The Man know knew too much" zu sehen war, musste nach der Befreiung Frankreichs wegen seiner Mitwirkung an dem als antifranzösischer Propaganda eingestuften Film für sechs Wochen ins Gefängnis. Wenn man den film noir heute unvoreingenommen betrachtet, fallen vor allem seine naturalistische Bildsprache, sowie der Kontrast zwischen den Weiten der Landschaft und den Engen der Gassen und Wohnstuben auf. Das angeblich wenig schmeichelhafte Zeugnis, das der Film Denunzianten ausstellt, könnte sich überall und jederzeit wiederholen, liegt es doch in der Natur des Menschen, offen für Klatsch und Geheimnisse zu sein und von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken, indem man Fehler oder Schuld anderswo sucht. Die Reaktionen der Gemeinde spiegeln die Empörung über eigene uneingestandene Mängel und nehmen den Menschen am Pranger gerne als stellvertretenden Büßer aller Fehltritte hin. So ist auch der Freidenker Germain, dem überragende Intelligenz, aber wenig Nachsicht gegenüber dem Leben bescheinigt werden, nicht frei von Vorurteilen.

Gut und Böse, Schwarz oder Weiß werden zu Kategorien, die Wegweiser für den Umgang mit seiner Umgebung darstellen. Er wird von zwei Frauen umworben, Laura Vorzet und Denise Saillens. Während Madame Vorzet mit blonder Gretchenfrisur und fragenden Augen dem Ideal der deutschen NS-Frau entspricht, steht Mademoiselle Saillens für das Laster. Ihr erster Auftritt zeigt sie in aufreizender Aufmachung im Bett, dem Ort, den man mit ihrer Figur in Verbindung bringt. Durch eine Verletzung hinkt sie und hält sich deshalb zumeist zuhause auf, während die Arztfrau Laura Besuche an Krankenbetten und in der Kirche macht. Der Zuseher kommt nicht umhin, eigene Vorurteile zu bemühen. Er billigt die platonische Romanze mit der edlen Madame Vorzet, die mit einem weitaus älteren, schrulligen Bartträger verheiratet ist, während er Germains Beziehung zu Denise ungern zur Kenntnis nimmt. Insofern erteilt Clouzot seinem Publikum eine Lektion, wenn er es als ebenso voreingenommen entlarvt, wie die Bewohner seines Filmschauplatzes. Am Ende muss der Zuschauer erkennen, dass er sich geirrt hat und er sich durch Äußerlichkeiten und Rang hat täuschen lassen. Ein weiteres Gegenargument für die These, der Film sei wegen seiner Produktionsbedingungen voll dumpfer Nazi-Botschaften, ist die Tatsache, dass die Identifikationsfigur, Dr. Rémy Germain, kein Halbgott in Weiß ist, sondern ein Gegner der NS-Doktrin, welche besagt, eine Frau sei nur in ihrer Funktion als Mutter wertvoll. Dr. Germain entscheidet sich im Notfall für das Leben der Frau und versucht nicht um jeden Preis das Ungeborene zu retten, was ihm innerhalb der gottesfürchtigen Gemeinde den Ruf eines "Engelmachers" beschert. Sein Umgang mit Kindern ist pragmatisch und wird von keinen Gefühlsduseleien getrübt. Er schätzt Offenheit und erwartet klare Antworten. Ein vielschichtiger Film, der neben seinem Hauptthema, dem klassischen Verwirrspiel um einen Täter im Hinterhalt, aufschlussreiche Charakterstudien und nachhaltige Bilder liefert.

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