DIE REISE NACH TILSIT - Veit Harlan

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
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Percy Lister
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DIE REISE NACH TILSIT - Veit Harlan

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"Die Reise nach Tilsit" (Deutschland 1939)
mit: Kristina Söderbaum, Frits van Dongen, Anna Dammann, Joachim Pfaff, Eduard von Winterstein, Albert Florath, Wolfgang Kieling, Manny Ziener, Ernst Legal, Charlotte Schultz, Jakob Tiedtke, Lotte Spira, Paul Westermeier, Alfred Karen u.a. | Drehbuch: Wolfgang Schleif und Veit Harlan nach der Vorlage von Hermann Sudermann | Regie: Veit Harlan

Elske Settegast lebt mit ihrem Mann Endrik und dem kleinen Sohn Jons in einem Fischerdorf am Kurischen Haff in Ostpreußen. Als die Polin Madlyn Sapierska als Sommergast in das Dorf kommt, verliebt sich Endrik in sie und verbringt viele Stunden mit ihr. Die elegante Frau aus Warschau will den Mann ganz für sich gewinnen und besucht Elske, um sie zu drängen, Endrik freizugeben. Am Silvesterabend versöhnt sich das Ehepaar und die mondäne Madlyn scheint vorerst vergessen. Im Frühjahr darauf quartiert sie sich jedoch erneut im örtlichen Gasthaus ein und die Affäre flammt wieder auf. Elske ist verzweifelt und berät sich mit dem Dorflehrer Schleif, ob sie die Scheidung einreichen soll. Endrik will den gemeinsamen Sohn für sich haben und mit seiner Geliebten fortgehen. Zuvor jedoch soll das Pferd Lise auf dem Markt in Tilsit verkauft werden. Die Fahrt dorthin unternimmt das Ehepaar mit dem Boot. Endrik versteckt den zweiten Rettungsring und steuert eine Stelle an, wo bereits mehrere Menschen ertrunken sind....

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Der deutsche Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehte im Jahr 1927 seinen ersten Spielfilm in den Vereinigten Staaten von Amerika, der auf einer Erzählung von Hermann Sudermann beruhte, "Sonnenaufgang - Lied von zwei Menschen". Für seine Arbeit heimste er drei Academy Awards ein, während die Neuverfilmung unter der Spielleitung von Veit Harlan keinen Filmpreis erhielt. Die Alliierte Militärregierung verbot die Produktion nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs wegen ihrer antislawischen Parolen, die sich gegen die Antagonistin des Films, die Polin Madlyn richteten. Fünf Jahre später wurde "Die Reise nach Tilsit" in gekürzter Form wieder gezeigt, wobei der heutige Betrachter feststellen kann, dass die ungekürzte Fassung von 1939 bei weitem nicht so tendenziös ist, wie man es nach dem Aufführungsverbot durch die Siegermächte erwartet hätte. Böse Worte im Zusammenhang mit ehebrecherischem Verhalten gibt es zuhauf auch im Unterhaltungskino der Fünfziger Jahre, wobei das Stadt-Land-Gefälle oder die Verführungskraft einer exotischen Protagonistin zuweilen für Spannung sorgen. Interessanter sind in diesem Kontext die Bezüge zum realen Umfeld des Films, das in der Handlung einige Aspekte aus dem Privatleben des Reichspropagandaministers und obersten Filmhüters Joseph Goebbels spiegelt. Die tschechische Filmschauspielerin Lída Baarová war zwei Jahre lang die Geliebte des braunen Agitators, was Magda Goebbels angeblich veranlasste, die Uraufführung frühzeitig zu verlassen. Parallelen zwischen Leinwand und Realität mögen erkennbar sein, sind aber nicht zwingend, weil es solche Geschichten zu Tausenden gibt. Verletzter Stolz und gekränkte Eitelkeit lassen jedoch zu jedem Strohhalm greifen, wenn es die Gelegenheit gibt, Öl ins Feuer zu gießen und der eigenen Empörung Ausdruck zu verleihen. Immerhin gab es dreißig Jahre später erneut eine Verfilmung des Stoffes, der in seinen Grundfesten zeitlos ist und eine ganz alte Geschichte erzählt, die den Menschen erschüttert und rührt, weil er die Situation der Figuren nachvollziehen und reflektieren kann.

Der Naturalismus eines Gottfried Keller oder eines Theodor Storm flackert in den unendlichen Weiten der sich im Wechselspiel von Wasser und Land befindlichen Kulisse auf, wobei die Kamera von Bruno Mondi eindrucksvolle, schwermütige Bilder einfängt. Die Abhängigkeit der Personen von ihrer Umgebung, die für ihren Lebensunterhalt sorgt, bindet sie nicht nur ökonomisch an ihre Heimat, sondern auch emotional. Die Seele des Films bildet Kristina Söderbaum, deren Beständigkeit von ihren Gefühlen in einen schweren Gewissenskonflikt gebracht wird. Die Angst vor dem Verlust ihres Gatten geht eine Verbindung mit der Furcht vor dem Verlust des eigenen Lebens ein, wird jedoch nach und nach von der Schicksalshaftigkeit des Daseins und der Sorge um die Zukunft ihres Kindes abgemildert. Ihre Ergebenheit in die Unberechenbarkeit der Vorsehung scheint ihr zunächst Kraft und Ruhe zu verleihen, zehrt dann allerdings an ihr und macht sie schweigsam und matt. Einmal mehr rührt Södermann an das Mitleid des Zuschauers, der sie in den Arm nehmen und vor jeder Unbill beschützen möchte, während der zerrissene Charakter, den der Niederländer Frits van Dongen darstellt, durch seine Unzuverlässigkeit Fragen aufwirft, die nur halbherzig beantwortet werden. Albert Florath flankiert das Ehedrama als aufmerksamer Ratgeber, der Lösungswege aufzeigt. Anna Dammann kommt die Aufgabe zu, die Verlockungen der Stadt zu verkörpern, deren Absichten egoistischer und zerstörerischer Natur sind und die selbst bei einem Strandspaziergang nach einem Schleier für den Hut verlangen. Ob die Duldsamkeit der braven Ehefrau vom nationalsozialistischen Ideal geprägt ist oder einfach der landläufig gültigen Einstellung einer finanziell abhängigen, liebenden jungen Frau und Mutter entspricht, ist Interpretationssache. Nichtsdestotrotz wartet "Die Reise nach Tilsit" mit überzeugenden Schauspielerleistungen und atmosphärisch fotografierten Bildern auf, die den Film sehenswert und künstlerisch wertvoll machen. Die Schönheit der Traurigkeit, deren (selbst)zerstörerische Kraft die Zeiten überdauert, ist ein typisches Merkmal bei Veit Harlan und macht seine Bildkompositionen immer wieder zu einem nachhaltigen Erlebnis.

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